Hyperbaustelle

2110 – Landflucht

Montag, 07. Juni 2010 von nov

nov, 7. Juni 2110

Habe mich gerade in die Computer und Cams einer großen Wasserlilie eingeloggt. Erstaunlich, wie schnell sich das urbane Leben auf das Meer verlagert hat. Zuerst war es ja eher eine Notmaßnahme: steigender Meeresspiegel, ergo: schwimmende Häuser – Landgewinn für Japaner, Niederländer und Inselstaatenbewohner. Inzwischen sind wir Landratten in der Minderheit. Viele ziehen das Leben in diesen Aufsehen erregenden Architekturen vor, die von keiner Naturkatastrophe in Mitleidenschaft gezogen werden können. Mit einem E-Logistiker der 30.000-Einwohner-Lilie stehe ich in Kontakt. Er arbeitet im 12. Stockwerk unter Wasser. Auf meine Bitte hin richtet er hin und wieder die Kamera durch das riesige Bullauge nach draußen. Ich sehe viele Tentakel von oben ins Wasser greifen. An ihren Enden sind verschiedene Geräte befestigt, mit denen die Stadt im Meer stabil gehalten, Strömungsenergie gewonnen oder Abwasser verteilt und zersetzt wird. Roboter, die ihre Reparatur-arbeiten verrichten, und Fische durchziehen in Schwärmen das Bild.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Wasserwährung

Mittwoch, 02. Juni 2010 von nov

nov, 2. Juni 2110

Nach dem Zusammenbruch der Geldwirtschaft hat sich eine elementare Währung herausgebildet: der Wasserverbrauch. Wir messen alle Dinge in Litern Wasser, die zu ihrer Herstellung benötigt werden.

1 Orange: 50 Liter
1 Tasse Kaffee: 140 Liter
1 Kilogramm Reis: 3.000 Liter
1 Kilogramm Käse: 5.000 Liter
1 Mikrochip: 32 Liter
1 Paar Schuhe: 8.000 Liter
1 bedienbarer Computer: 20.000 Liter
1 Selbstbeweger: 400.000 Liter

Mit jemandem sein Wasser zu teilen, ist das größte Gastgeschenk, ganz wie es die Fremen aus der alten Schwarte »Wüstenplanet Dune« hielten. Dass ein fantastisch anmutendes Buch so viel Wirklichkeit enthalten könnte, überrascht mich immer wieder, wenn Gloria und ich feierlich unsere Lippen mit nicht aufbereitetem, tiefem und deshalb nicht erneuerbarem Grundwasser benetzen.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Exkommuniziert?

Mittwoch, 26. Mai 2010 von nov

nov, 26. Mai 2110

Tatsächlich ist die Exkommunikation die schwerste Strafe, die einen Menschen heute treffen kann – der Ausschluss von der Teilnahme an allen unseren Kommunikationsmitteln, die Sperrung des Netzzugangs, die Verweigerung des Logins und der Robotersteuerung. Eine Exkommunikation bedeutet die Vernichtung der globalen Identität, den Entzug des Wissens, das Ende des Austauschs, den Verlust jeder Operabilität, Orientierung und Teilhabe.

Mir ist allerdings niemand bekannt, der exkommuniziert wurde, weder aus der realen noch aus der virtuellen Welt. Vermutlich dient diese Vorstellung einer postchristlichen Hölle nur der Abschreckung. Tatsächlich ist Kommunikation in unseren Tagen eine religiöse Handlung geworden. Beichten nehmen wir uns in unseren Blogs, Foren und Chatrooms sub rosa gegenseitig ab. Wie im historischen Beichtstuhl sehen wir unserem Beichtvater nicht direkt ins Gesicht und erhalten das Bußsakrament durchs digitale Gitter.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Traumfabrik

Mittwoch, 19. Mai 2010 von nov

nov, 19. Mai 2110

Ein Mann bewegt sich in einer Steppenlandschaft auf eine Felsgruppe zu. Er verlangsamt sein Tempo auch kurz vor dem Felsen nicht. Bevor er aufläuft, öffnet sich der Stein. Der Mann geht hinein, der Fels verschließt ihn in sich. Eine Frau steht vor einem großen blühenden Kastanienbaum, das Licht trifft so auf die Blätter, dass sie die Frau spiegeln. Sie steht vor einem riesigen Mosaik aus sich selbst. Sie spricht durch dieses und mit der Stimme des Windes zu den Menschen, die auf den Feldern der Ebene arbeiten.

Diese Szenen stammen aus einem Film aus unserer Region, den ich mir gestern angeschaut habe. Die Filme unserer Zeit sind alle vollkommen synthetisch hergestellt – perfekte Technobilder ohne eine echte Außenaufnahme und ohne Schauspieler. Je virtueller ihre Herstellungsweise desto mehr beschäftigen sie sich mit der Natur und der Eingebundenheit des Menschen in sie. Verschmelzungen und Dialoge mit der Natur kennzeichnen unsere Traumfabrik.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Märchenunhold Makler

Dienstag, 11. Mai 2010 von nov

nov, 11. Mai 2110

Werte sind immer mit anderen Menschen verbunden. Es gibt sie nicht abgelöst davon. Alles gehört uns gemeinsam. Wir kommunizieren immer offen, weil es nichts gibt, was wir zurückhalten müssten. Wir bezahlen mit unserer Zeit, mit unseren Wissen und unseren Fertigkeiten, und wie die Menschen aller Zeitalter, am Ende mit dem Leben. In den Märchen fürchten unsere Kinder vor allem die finstere Figur des Börsenmaklers, obwohl sie sein hauptsächlich gebrauchtes Wort nicht verstehen: kaufen.

Wozu gab es früher eine Branche, die mit einem abstrakten Zahlungsmittel handelte? Und nicht nur das: Ihre im Grunde völlig überflüssigen Agenten machten die Ströme dieser Fetische zum eigentlichen Inhalt und lösten sie immer weiter vom Menschen und seinen Bedürfnissen ab. Warum gab es in diesem System vor allem negative Werte? Wieso verursachten Menschen sogenannte Schulden, sobald sie nur existierten? Warum rentierte man sich einfach nicht, ebensowenig sinnvolle Arbeiten? Was heißt, Zocken war Herrschaftswissen?

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Entfesselte Riesen

Freitag, 07. Mai 2010 von nov

nov, 7. Mai 2110

Seit einer Stunde fahre ich durch eine höchst eintönige Landschaft: Wie eine Plantage Schultafeln reichen die Solaranlagen bis an den Horizont. Wir haben unsere Lektion gelernt: Energiequellen sind umso effektiver, je umweltschonender und risikoloser Energie gewonnen werden kann. Denn häufig genügte ein einziger Unfall, in einem Kernkraftwerk oder auf einer Bohrinsel, um die Menschheit für ihre Dreistigkeit Generationen lang bezahlen zu lassen. Unterirdisch liegen Unmengen atomarer Abfälle verborgen, deren Halbwertszeit die Menschheit wahrscheinlich um ein Vielfaches überdauern wird.

Das ist wie die Geschichte des Zauberlehrlings, der seinem Besen besser nichts befohlen hätte. Es sind nicht immer nur die neuen Haushaltsgeräte, die besonders gut kehren. Auf manchen uralten, Sonne, Wind und Wasser, kann man fliegen, und das ist kein Hexenwerk. Über mir schwingt der riesige Rotor eines Windkraftwerks. Keiner kämpft mehr gegen diesen Riesen. Don Quichote reitet längst auf unserer Seite.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Ruinen

Dienstag, 23. März 2010 von nov

nov, 19. März 2110

Heute besuchte mich Gloria. Wir kennen uns aus der Schule und helfen uns nun schon lange gegenseitig auf der Suche nach unseren Körpern. Sie machte einen mitgenommenen Eindruck, weil die Service-Robots in ihrem Bezirk defekt waren und sie sich die Konstruktionsdaten ihrer Wohnung neuronal verabreicht hatte. Wir entschlossen uns zu einem Spaziergang draußen in den Ruinen. Gloria war wie üblich darüber begeistert, wie angenehm die Schutzanzüge zu tragen sind. Die verfallenen Gebäude forderten uns heraus zu überlegen, was die einzelne Baulichkeit früher wohl beherbergte. Gloria war gut vorbereitet und hatte die ganzen Fakten gespeichert. Relativ zielsicher navigierte sie zu einem ehemaligen Krankenhaus und dort in die, wie sie sagte, Geburtsstation. „Hier haben Frauen Kinder geboren“, sagte sie, „unvorstellbar, oder?“ Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Kind gesehen hätte. Kinder sind eine heikle Sache, die Erziehung wird als so wichtig eingeschätzt, dass sie besser nicht von Menschen übernommen wird.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Avantgarde of non-consumption

Mittwoch, 03. März 2010 von nov

nov, 3. März 2110

An der Wand vor meinem Terminal hängt das Bild eines unserer globalen Helden. Er hatte damals mitten in New York begonnen, Energie zu sparen und seinen Konsum drastisch einzuschränken. Trotz aller Schwierigkeiten und Anfeindungen, weil er zum Beispiel kein Klopapier mehr benutzte, hielt er durch und formulierte seine Erfahrungen und Einsichten in seinem Blog. Der steht immer noch in der Holobibliothek und hat der Bibel längst den Rang abgelaufen. Die Verhaltensmaßregeln der von ihm gegründeten Gruppe »Avantgarde of non-consumption« sind zu unseren Geboten geworden. Ihre Einhaltung unterstützen wir durch neue Techniken, wo es nur geht. Heute bauen wir unsere Häuser aus bestens dämmendem Müll. Unsere Kleidung, das Geschirr, alles selbstreinigend, Nanobehandlung macht’s möglich. Die Diffusion der Partikel in die Haut ließ Waschen zur Luxusveranstaltung werden. Papier ist komplett durch praktisch unzerstörbare E-Books ersetzt. Fleischessen ist wegen des hohen CO2-Ausstoßes von Tieren und den enormen Wasserverbrauch bei der Aufzucht Geschichte geworden.

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

Im Nexus mit Philip K. Dick

Montag, 22. Februar 2010 von urb

Nexus – woher kennt man das? SciFi-Fans werden nicht lange überlegen müssen: eine Art spirituelle Matrix im gleichnamigen Star Trek-Film mit Jean-Luc Picard und James D. Kirk. Und die Androiden-Generation Nexus-6 aus Philip K. Dicks Erzählung »Do Androids Dream of Electric Sheep?«  – vielen besser aus der Verfilmung »Blade Runner« bekannt. Technikfreaks werden sofort an das Google-Smartphone Nexus One denken. Gegen das klagt Dicks Rechteverwertungsfirma jetzt.

Rutger Hauer spielt einen der Nexus-Replikanten in Blade Runner.

Mehr als ein Telefon - Rutger Hauer spielt einen der Nexus-Replikanten in Blade Runner.

(more…)

2110 – Viren, Wörter und Gefühle

Samstag, 20. Februar 2010 von nov

nov, 20. Feb. 2110

Seit Bio- und Digitalneuronen direkt ineinander übergehen, sind Computerviren auch auf den menschlichen Organismus übertragbar. Im vergangenen Jahr habe ich mir eine Paraglosstrojaner eingefangen, der meine Lexik umstrukturierte. Ich verwendete nur noch Wörter mit weniger als fünf Buchstaben richtig. Bei allen anderen kam es zu peinlichen Verschiebungen: Bei jeder Begrüßung verabschiedete ich mich, Respektspersonen begegnete ich mit Schimpfwörtern und für meine eigene Person hatte ich ständig andere Namen: Gefräßiger Plapperkäfer von Traal, Babelfisch, Eccentrica Gallumbits, Oberbrülloffizier oder Ähnliches …

Nach einer Formatierung meines Sprachzentrums war dann alles wieder in Ordnung – aber was sage ich, seitdem habe ich das Gefühl, ich sehe mir beim Denken zu. Das Vokubular, das ich zu meiner täglichen Arbeit brauche, flutscht nur so. Aber waren da früher nicht noch Worte, die mir innerlich näher standen …

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Für den Körper lernen wir

Freitag, 12. Februar 2010 von nov

nov, 12. Feb. 2110

Ich habe gerade sehr über eine kortikale Einspielung gelacht, die die primitive Lernweise unserer Vorfahren betrifft: „Blended Learning“ – die sinnvolle Verknüpfung von Präsenzunterricht und E-Learning-Elementen. Heute führen wir uns Informationen direkt neuronal zu und betreuen uns gegenseitig, diese Infofluten zu verkraften. Ja, es kommt niemand mehr in die Gelegenheit, das komplett anwenden zu können, was seine Neuronen für ihn gespeichert haben und in einer Neokortex-umspannenden Bewusstseinswolke omnipräsent halten. Deshalb begeben wir uns einmal in der Woche in die Schule, um unseren Körper wieder an unseren sich ständig verändernden und explodierenden Geist zu gewöhnen. Nicht für die Neuronen, sondern für den Körper lernen wir, sagen wir uns vor, während wir komplizierte Bewegungsabläufe trainieren und uns des Glückes erfreuen, dem uns die Hormonausschüttungen unserer Muskeln teilhaftig werden lassen … Die Schule ist ein Wissenseindämmungs-apparat geworden – oder war sie das nicht schon immer?

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

2110 – Ewig so weiterfahren …

Freitag, 05. Februar 2010 von nov

nov, 5. Feb. 2110

Einmal in Gang gesetzt, ewig in Bewegung – das Perpetuum mobile ist seit dem 8. Jahrhundert ein Wunschtraum der Menschheit und ist nach dem Energieerhaltungssatz ein Ding der Unmöglichkeit. Bei der Fortbewegung ist es entscheidend, wie nah man diesem zuerst von indischen Astronomen beschriebenen Idealzustand kommt. Die einem Fortbewegungsmittel zuzuführende Energie geht gegen Null, wenn man die von ihm erzeugte Energie im höchsten Grad für den Antrieb nutzen kann. Gestern bin ich mit einem unserer Beweger über Land gefahren. Dazu brauchte ich nur einen geladenen Akku einzustecken, der vor allem für den Start und seltene Impulsgebungen nötig ist. Ansonsten gewinnen unsere Selbstbeweger alle Energie aus sich selbst: die kinetische Energie der Bewegung, die Wärme aus den Bremsungen, Auftreffen und Widerstand der Luft, die Abluft der Insassen … »Ich könnte ewig so weiterfahren« war vor hundert Jahren eine Stimmung – heute ist eine mehrfache Erdumrundung möglich, solange würde das verbaute Material nicht ermüden …

To be continued …

Alle Tagebucheinträge von nov aus dem 22. Jahrhundert

Werkzeuge

Rubriken

 

RSS-Feed abonnieren   Follow urb2_0 on Twitter
 
  urb on Facebook
 

Letzte Kommentare

Stichwörter

 

Beiträge

April 2024
M D M D F S S
« Feb    
1234567
891011121314
15161718192021
22232425262728
2930  

Benutzer

Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de

 

© nov – Powered by WordPress – Design: Vlad (aka Perun)