Hyperbaustelle

Netzkultur – Utopie oder Inzest?

Hier ein Fundstückchen, da eins – im Netz sind fleißige Sammler unterwegs. Ihre elektronischen Briefmarkenalben sind hübsch anzuschauen, durchaus geistreich und mit seltenen Stücken veredelt. Aber allzu oft täuscht das bunte Spektrum kosmetisch über die Tatsache hinweg, dass es an Aussagen mangelt und das Netz sich an zahlreichen Stellen einfach reproduziert. So kann man unter der Make-up-Schicht der Aktualität alles oder nichts in der Netzkultur finden – oft auch leider letzteres.

Frank Westphal, der Macher des News-Aggregators Rivva

Frank Westphal, der Macher des News-Aggregators Rivva, möchte den anschwellenden Informationsfluss im Web durch eine Frank-Schirrmacher-Maschine bändigen, die umso besser wird, je länger man sie benutzt.

Frank Westphal, der Betreiber von Rivva (ein schönes Porträt von ihm gibt es bei Carta), räumte in einem Interview mit der F.A.Z. ein, dass er möglicherweise einen Inzest organisiert habe. Er stellte fest, dass auf seiner Plattform nie ein Blog hinzukam, der sich mit etwas anderem als Netz und Medien beschäftigte, als sei dieser Bereich innerhalb der Blogosphäre eine Insel. Und auf dieser Insel redeten alle auch noch über dieselben Geschichten.

Nur im Netz grassierende Themen aufgreifen, heißt, das Netz im eigenen Saft braten lassen. Zu wenig werden neue Themen ins Netz hineingetragen. Zu wenig ausgeprägt ist die Bereitschaft, diese engagiert zu vertreten oder sich auf diese einzulassen. Zu wenig erkennt man klare inhaltliche Linien bei den Repräsentanten der Netzkultur. Der Begriff spiegelt das wider:  Er meint die Lebens-, Kommunikations- und Produktionsweise der Digital Residents und ist ein Sammelsurium aus  Beiträgen zu Social Media, zur Schelte der klassischen Medien, zu urheber- oder datenschutzrechtlichen Fragestellungen, technischen Neuerungen oder besteht einfach aus irgendwo aufgegabelten Bild- und Filmchen.

Netzkultur bezieht sich weniger auf konkrete Inhalte als vor allem auf die Art und Weise, wie Themen im Netz präsentiert werden. Oberste Ziele dabei sind Klicks erzielen, Frequenz halten, am Ball sein! Beiträge mit technischem Hintergrund oder über aktuelle Webtrends werden grundsätzlich am häufigsten abgerufen. Dann heißt es, das Vorhandene aufkochen, einordnen, in anderes Licht tauchen, mal von der anderen Seite ansehen, problematisieren oder platt bestätigen.

Die Frage, ob Netzkultur eine utopische Komponente hat, ist daher nicht leicht zu beantworten. Allein die Technik macht noch keinen neuen Entwurf, genauso wenig Aufgekochtes. Hinzu kommen Besucher, die gerade mal ein halbes Auge auf Inhalte werfen. So zerstreut die Netzkultur mehr als dass sie konzentrieren könnte. Zudem pflegen Vertreter der Netzkultur gerne ein mehr oder minder elitäres  Insidertum. Zu wenig bewegen sie sich nach außen, zu wenig sind sie darum bemüht, sich verständlich zu machen, um mehr Leute zu erreichen. Wahrscheinlich besteht hierin auch das Problem der Piraten, das am schlechten Wahlergebnis in NRW deutlich wird: Die Partei kann sich außerhalb des Netzes und in einem gesamtpolitischen Themenspektrum nicht etablieren.

Der Aufbruch ins Netz, die relative Unabhängigkeit der Blogosphäre, der unbedingte Wille, unabhängig Stellung zu beziehen – das alles zielt in Richtung einer solidarischen, demokratischen und kooperativen Praxis. Die derzeitige Netzkultur zerstreut diesen Aufbruch, verliert sich in narzisstischen Gesten und spielt somit kommerziellen Mächten in die Hände. Eine grundsätzliche Gefahr bringt darüber hinaus die Entropielehre mit sich: Wer sich zu sehr innerhalb des Netzes engagiert, verliert möglicherweise die Machtverhältnisse der realen Welt aus dem Blick.

Dieser Beitrag wurde am Montag, 17. Mai 2010 um 11:47 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Medien / Web abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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9 Comments »

  1. Mich würde interessieren, wie denn die Frank-Schirrmacher-Maschine genau ausschauen soll?

    Comment: paul – 21. Mai 2010 @ 10:33

  2. Ich bedauere sehr, dass es Rivva derzeit nicht mehr gibt – und wundere mich auch, dass das sein muss, weil Frank „eine Auszeit braucht“. Ich dachte, das Ganze laufe algorithmisch ab und brauche nicht ständige Wartung.

    Rivva gab mir tatsächlich diesen „inzestuösen“ Blick auf einen kleinen, aber lautstarken Teil der Blogosphäre. Neben anderen Informations-Quellen und Aggregatoren (z.B. Net-NEws-Global.de) hat das ja durchaus seinen Sinn und Stellenwert.

    Allerdings ging mir zunehmend auf die Nerven, dass oft gefühlte 60% der Inhalte englischsprachig waren. Ich KANN das lesen, ja – aber es interessiert mich nicht so wahnsinnig, wie amerikanisches TechBlogs neue Gadgets oder irgendwelche „Schritte“ bekannter Netzfirmen verhackstücken,

    Das lag m.E. am Alggorithmus: verlinkt ein wichtiges deutschsprachiges Blog auf TechCrunch, kommt dieser Artikel in den Rivva-Fokus, sowie die gesamten, ebenfalls vornehmlich englischsprachigen Reaktionen darauf. Das Auslöser-Blog verschwindet in der Masse der viel „relevanter“ wirkenden Reaktionen aus dem amerikanischen Raum.

    Lieber als den Blick über den großen Teich wär mir das Einbinden ANDERER Themenblogs gewesen – jenseits Technik und Netzpolitik. Aber für deren oft langsameren Takt entlang an weniger „aktuellen“ Themen hätte es wohl eines ganz anderen Alghoritmus bedurft.

    Deine Klage über das Insidertum vieler Blogger ist berechtigt! Den wenigsten scheint im Bewusstsein zu stehen, dass viele Menschen auf einem Artikel landen, die keinerlei Vorwissen vom Thema haben – oder es interessiert sie halt nicht.

    Zu deinem letzten Absatz: ich erlebe „die Netzkultur“ derzeit als umgemein zerstreut und im Umbruch: nicht mehr die eigene Homepage und auch nicht das einzelne Blog ist das „Spielfeld“, sondern überall verteilte Systeme, auf denen aggregiert, weiter gemeldet und kommentiert wird.

    Das betrifft alle, die publizieren, aber umgekehrt ist es ebenso schwer, einen Überblick zu bekommen, der einerseits nicht „Inzest“ im Kontext einiger persönlich präferierter Quellen ist, andrerseits nicht in unendliche Beliebigkeit verstrickt.

    In diesem Umraum müssen sich alle erstmal zurecht finden – und das auf sehr unterschiedlichen Ebenen von Medienkompetenz.

    Comment: Claudia – 09. Februar 2011 @ 11:45

  3. Ja, es wäre schön, wenn uns mal einer erklären könnte, was Rivva selbsttätig algorithmisch erledigt hat und an welcher Stelle händisch einzugreifen war. Denn so hatte ich die Interviews mit Frank Westphal interpretiert: dass man sozusagen redaktionell eingreifen konnte bzw. zumindest neue Impulse für maschinelle Lernprozesse geben konnte.

    Ansonsten geht es mir sehr ähnlich wie dir, Claudia. Ich habe das Gefühl, dass das Aggregieren der Informationsfindung im Netz fast schon im Wege steht, zumindest diverse Leerläufer mit sinnfreien Themenzusammenstellungen erzeugt. Das wird nach dem Abschalten von Rivva sicher nicht besser, weil so viel Sachverstand sehe ich andernorts nicht walten.

    Comment: urb – 09. Februar 2011 @ 16:33

  4. P.S. @Claudia: Hast du einen Plan, wie eine sinnvolle Themenstruktur der Blogosphäre aussehen müsste?

    Comment: urb – 09. Februar 2011 @ 16:35

  5. Nein, leider nicht – nicht mal für die persönliche Nutzung. Ich aggregiere hier und da dies und das,. wobei dann doch wieder viel dabei ist, das ich dann doch nie lese. Meine eigenen täglichen Fundsachen poste ich auf Friendfeed, von wo aus es auf Twitter und FB weiter geleitet wird – soziale Verstreuung…

    Eine „Themenstruktur“ wäre halt eine Aufzählung verschiedener Kategorien (Politik, Recht, Mode, Netzpolitik, Nachhaltigkeit, Kochen&Essen, Wirtschaft, Lokales, Sort, Garten, andere Hobbys… 9, die schnell ellenlang wird. Es gibt ja solche Blogverzeichnisse, aber wer schaut da schon rein? (Hier fallen auch „Allgemeinblogs“ immer hinten runter…).

    Weitere Sortier-Elemente wären Alter der Quelle, Artikelfrequenz, durchschnittliche Artikellänge – und dann wirds schon schwierig, weil Kriterien wie Leser/Tag, Verlinkung, Seitenaufrufe, etc. kaum stimmig zu erheben sind, bzw. um viele Messlatten herum der kreative „SEO-Kampf“ tobt, der die Auswahl guter Quellen nicht unbedingt einfacher macht.

    Na, aber dieses rationale Top-Down-Herangehen ist ja doch eher von gestern – vielleicht sollte man einfach mal ein Blogprojekt ausrufen mit einem nicht allzu komplexen „Empfehlungsformat“, an das sich alle Teilnehmer halten. Wobei es schon komplexer sein soll als bloß „meine 5 Lieblingsblogs“!

    Am Ende aggregiert man das was dabei heraus kommt und hätte mal wieder eine schöne Übersicht.

    Comment: Claudia – 09. Februar 2011 @ 22:40

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  9. @Claudia: Gerade Blogs mit allgemeiner Themenstruktur müsste man über ihre Perspektive bzw. ihren Fokus kriegen: Also ob jemand eher „Einschau“ hält, Erlebnisse mitteilt, im Netz grassierende Diskussionen wiedergibt oder der Manie verfallen ist, alles unter utopischen Blickwinkel zu betrachten. Ich weiß zwar noch nicht wie das verallgemeinert werden kann, aber es wäre mal ein anderer Ansatz.

    Comment: urb – 11. Februar 2011 @ 10:50

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