Hyperbaustelle

Ist Utopie totalitär?

Französische Philosophen scheinen der Freiheit auch das vorausdenkende Gestalten opfern zu wollen. In der Philosophie-Reihe auf Arte.tv wurde der Rechtswissenschaftler Frédéric Rouvillois, spezialisiert auf Staatsrecht sowie Ideen- und Repräsentationsgeschichte, befragt. Seine eindimensionale Antwort: Utopie = Faschismus!

Frédéric Rouvillois besteht darauf: Die Umsetzung der Hoffnung sei zugleich ihre Überwindung – paradoxerweise bedeutete demnach die Realisierung einer Utopie ihr Ende. Sein Anschauungsmaterial: die idealen Stadtstaaten der historischen Utopisten. Ihre Städte sind geplant, nicht organisch gewachsen und zeichnen sich durch eine geradezu geometrische Ordnung aus. Die Menschen werden darin genauso organisiert, von oben herab in einem totalitären Staatswesen. Der Wunsch nach Perfektion regelt das Leben der Menschen bis ins kleinste Detail mit Big-Brother-Qualitäten.

Über seinem Gegenstand hat Rouvillois, Professor für öffentliches Recht, scheinbar vergessen, dass es  einen Unterschied zwischen Utopie als verwirklichtem Gesellschaftsmodell und utopischem Denken gibt. Utopie hat ihre Existenz im Denken dessen, was noch nicht ist. Sie ist dabei weder eine Allmachtsfantasie, noch verharrt sie im bloßen Wunschtraum eines idealen und überegulierten Miteinander. Ohne den Versuch, dem utopischen Entwurf auch tatsächlich nahe zu kommen, ist er allerdings sinnlos. So würde sich der Mensch davon verabschieden, bewusst und steuernd in den Gang der Dinge und Geschichte einzugreifen.

Enthoven und sein Gast Rouvillois diskutieren die Beweggründe der Utopisten genauso wie ihre Ängste: Ist die Idee, die menschliche Natur zu verbessern, ein Zeichen für Angst vor der „wilden Natur“ und Ausdruck des Strebens, diese zu kontrollieren? Es muss nicht immer gleich Angst sein, aber zu einer kultivierten Gesellschaft, gehört es, das sich jeder Einzelne kontrollieren kann und nicht jedem seiner Antriebe nachgeht. Zudem ist es historisch bedingt, ob sich Menschen eher Freiheit von der Vernunft oder von der Natur verschaffen wollen. Tendenziell lässt sich sagen: Je mehr eine Epoche von Krisen geschüttelt wurde, desto mehr suchen die Menschen in einer geometrischen oder vernünftigen Ordnung Halt. Dort genießen sie dann die Freiheit von den Dingen, die ihnen scheinbar willkürlich zustoßen. Die Natur wird dann als Schutzmacht berufen, wenn die Reglements zu starr geworden sind. Schön kann man dies an den Paradigmen der französischen und englischen Gartenbaukunst nachvollziehen: geometrisch zurechtgeschnittene Pflanzenarchitekturen versus natürlich wachsende Parks (die allerdings auch von Menschen kultiviert werden, nur eben nach einem anderen Prinzip).

Bei der Auswahl dessen, was als Utopie gelten kann, kann man durchaus etwas kreativer als die beiden Philosophen im Arte-Programm sein. Es genügt nicht, sich allein auf den Vorreiter aller Utopien, Thomas Morus, zu beziehen, auf  Francis Bacon, der mit „Neu-Atlantis“ eine technophile Gesellschaft konzipierte, oder auf Tommaso Campanella, dessen „Sonnenstaat“ eine sexuell streng reglementierte Theokratie darstellt. Ernst Bloch hat in seinem »Prinzip Hoffnung« Campanellas Civitas Solis als »Zwangsrausch ohnegleichen« bewertet. Solchen Formen der entarteten Utopie stellt er Thomas Münzers Theologie der Revolution und die Drei-Reiche-Lehre des Joachim di Fiore gegenüber. Überhaupt interpretiert er die Bibel, insbesondere das Neue Testament, im Lichte des jüdischen Messianismus. Statt Jenseitsvertröstung holen die christlich-revolutionären Sozialutopien das Heilsgeschehen in die Geschichte.

Grundsätzlich ist die Arte- Dokumentationsreihe »Philosophie«, die der junge Philosoph Raphaël Enthoven moderiert, allerdings ein guter Tipp für alle, die sich für Gedankenspiele interessieren. Der Beitrag über Utopie ist sehenswert, auch wenn manches Fazit sich zu sehr an klar als Utopie ausgezeichneten Gesellschaftsmodellen orientiert. Nach Ansicht der Hyperbaustelle findet sich utopisches Denken in allen möglichen Bereichen, ohne als solches apostrophiert zu sein. Raul Zelik hat im Beitrag »Utopie ist realistisch« betont, dass Utopie kein totalitärer Staatssozialismus, sondern ein ergebnisoffener Prozess ist, der für die Menschen da ist und nicht umgekehrt. Bloch nennt diese auf die menschliche Würde abzielende Intention »Naturrecht«.

Arte TV
http://www.arte.tv/de/Die-Welt-verstehen/philosophie/3012272.html

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 13. Januar 2010 um 19:48 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Politik / Gesellschaft abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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7 Comments »

  1. […] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von Volkmar Breindl, urb erwähnt. urb sagte: Ist Utopie totalitär? – utopisches Denken versus diktatorisches Gesellschaftsmodell #Arte #Philosophie http://tinyurl.com/yenlmar […]

    Pingback: Tweets die Hyperbaustelle » Ist Utopie totalitär? | Utopie-Blog erwähnt -- Topsy.com – 14. Januar 2010 @ 00:02

  2. Auf dieses Argument stößt man leider sehr häufig. Doch wird nicht das Bestehende selbst totalitär, wenn es jede Denkbewegung nach draußen in den Verdacht des „Faschismus“ stellt und damit verwirft?

    Comment: Kathrin – 17. Januar 2010 @ 17:29

  3. Hallo Kathrin, da bin ich ganz deiner Meinung! Utopisches Denken mit dem Argument zu diskreditieren, es führe in den Faschismus, wäre reiner Totalitarismus. Einer, der den Status quo angesichts der unzähligen Missstände in dieser Welt sehr eigennützig erhalten möchte … Gruß urb

    Comment: urb – 17. Januar 2010 @ 22:53

  4. Hallo urb, ja genau… Allerdings ist diese Art der Diskreditierung utopischen Denkens ein typisches Argument der Jetztzeit, die von sich in ihren ideologischen Überhöhungen glaubt, eines bestmöglich verwirklicht zu haben, nämlich die Freiheit (als Gegensatz zum beschworenen Totalitarismus). Darüber, meine ich, müsste man also auch diskutieren: Über was sprechen wir, wenn wir von Freiheit sprechen? Und welche Freiheit haben wir eigentlich in den westlichen Demokratien? Und wer hat was von dieser Freiheit und wer eben nicht?

    Comment: Kathrin – 28. Januar 2010 @ 00:51

  5. @kathrin: Das hast du ziemlich auf den Punkt getroffen. Utopie hat deshalb ein solch schlechtes Image, weil die westliche Welt tatsächlich meint, die Freiheit schon verwirklicht zu haben und keine Utopie mehr zu brauchen. Deshalb nimmt sie sich auch immer mehr das Recht heraus, gegen Minderheiten vorzugehen. Indem sie ihnen vorwirft, Freiheit zu beschränken. Paul

    Comment: paul – 29. Januar 2010 @ 15:54

  6. In diesem Zusammenhang sei auf Robert Kurz‘ Schwarzbuch des Kapitalismus verwiesen. Das Buch veranschaulicht in vielen historischen Analysen, wie totalitär Marktwirtschaft verfahren kann. Von Freiheit keine Spur! Gruß urb

    Comment: urb – 29. Januar 2010 @ 15:58

  7. […] hat mich die Interpretation des Utopiebegriffs in der Philosophie-Reihe auf Arte.tv: Alle von Frédéric Rouvillois ausgemachten Utopien wurden von ihm als faschistische Staatsgebäude identifiziert. Die vorgestellten Entwürfe mögen […]

    Pingback: Hyperbaustelle » So viel Anfang im Januar | Utopie-Blog – 02. Februar 2010 @ 20:00

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