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Marx hätte besser nicht Recht …

Vor einiger Zeit besuchte ich eine Veranstaltung, auf der Fritz Reheis sein Buch „Wo Marx Recht hat“ vorstellte. Anhand von 12 Thesen zeigte er, welche ökonomischen Entwicklungen Marx antizipiert hatte. Diese Thesen über Marx bzw. von Marx schieben den Vorhang unseres Verblendungszusammenhangs einen Augenblick beiseite. Es wird deutlich, wie fremd die Welt, in der wir leben, eigentlich ist.

Marx was right; Flickr-Fotostream von "the justified sinner"

Fritz Reheis hat ein didaktisches Buch geschrieben, das aktuelle Problemzusammenhänge aufgreift und versucht, mit Marx eine Antwort zu finden. In seiner Klarheit und Marx nicht nacheifernden Sprache ist es auch Marxkennern zu empfehlen, auch wenn sie hartgesottene Schriftgelehrte sind. Nun aber zu den Thesen aus dem 19. für das 21. Jahrhundert:

1. Erkenntnis

Nicht von dem, was die Menschen sagen und denken, darf man ausgehen, wenn man das Wesen von Wirtschaft und Gesellschaft erkennen will, sondern von dem, was die Menschen tun (Hegel vom Kopf auf die Füße stellen).

2. Arbeit

Nicht nur von den angeborenen Eigenschaften der Menschen muss ausgegangen werden, sondern zudem davon, wie sie ihr Leben täglich durch Arbeit selbst hervorbringen (doppeltes Verhältnis zur Natur und zum Mitmenschen).

3. Ausbeutung

Nicht durch Belohnung für herausragende Leistungen werden einige wenige Menschen reich, sondern dadurch, dass sie die Arbeit vieler anderer Menschen ausbeuten können, weil diese keine eigenen Mittel haben, um für sich selbst zu sorgen (ursprüngliche Akkumulation und Konzentration des Kapitals).

4. Bedürfnisse

Nicht den Bedürfnissen der Menschen (als Konsumenten und Arbeitnehmer) dient die Arbeit im Kapitalismus, sondern der Hervorbringung von Mehrwert (Produktion um der Produktion willen).

5. Entfremdung

Nicht von Natur aus streben Menschen nach grenzenlosem materiellen Reichtum, sondern erst die Erfahrung der entfremdeten Arbeit unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion lässt ihre Sinnlichkeit so verkümmern (Sinn des Habens).

6. Sachzwanghaftigkeit

Nicht menschliche Tugenden (Ehrlichkeit, Vertrauen, Respekt vor der Autonomie des Willens  sind die Basis des Zusammenlebens im Kapitalismus, sondern die wechselseitige Instrumentalisierung der Menschen bei der Verfolgung jener Ziele, die durch verdinglichte Gegebenheiten als quasinatürlich und deshalb alternativlos gelten (Warenfetisch).

7. Staat

Nicht weil der Mensch von Natur aus andere bedroht, benötigen Menschen zu ihrer Sicherheit die staatliche Gewalt, sondern weil das Eigentum an Produktionsmitteln und Arbeitskraft geschützt werden muss, um den Fortbestand der Verwertung des Kapitals zu gewährleisten (Sicherung der Revenuequellen).

8. Stabilität

Nicht für Ausgleich und Stabilität sorgt der Marktmechanismus (unsichtbare Hand) im Kapitalismus, sondern aufgrund der Rückkoppelung von Gewinn und Investition für die Verschärfung der Ungleichheiten von Vermögen und Schulden, am offensichtlichsten auf Finanzmärkten (Verschärfung von Klassenstrukturen).

9. Fortschritt

Nicht auf generellen historischen Fortschritt zielt die Ausdehnung und Intensivierung des kapitalistischen Marktsystems, sondern aufgrund seiner fundamentalen Widersprüchlichkeit zur Vermehrung von Risiken und Krisen (gesellschaftliche Produktion gegen private Aneignung bzw. kollektive gegen individuelle Rationalität).

10. Revolution

Nicht als Beleg für die Fehlerhaftigkeit der Marxschen Prognosen kann der Untergang des sogenannten Realen Sozialismus gelten, sondern als Bestätigung der Marxschen Erkenntnis, dass erst durch die volle und globale Entfaltung des Kapitalismus sein Grundwiderspruch unerträglich und damit neue Produktionsverhältnisse möglich und notwendig werden (Produktionsverhältnisse als Fesseln der Produktivkräfte werden gesprengt).

11. Jenseits des Kapitalismus

Nicht die autoritäre Erziehung zu einem „neuen Menschen“ und nicht die zentrale Planung der Wirtschaft durch eine autonome Behörde sind das Wesen einer nachkapitalistischen Ordnung, sondern die Befreiung des Menschen von den so genannten Sachzwängen der Ökonomie durch die Aneignung und Verwaltung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft also eine Art Wirtschaftsdemokratie (freie Assoziation der Produzenten).

12. Grundlagen des Lebens

Nicht als knappe Ressourcen mit dem Zweck der Verwandlung in Kapital dürfen in einer nachkapitalistischen Ordnung die Menschen und die außermenschliche Natur behandelt werden (Zerstörung der Springquellen des Reichtums: der Erde und des Arbeiters), sondern als belebte und unbelebte Grundlagen des menschlichen Lebens, die in einen beständigen Stoffwechsel eingebunden sein müssen und einer andauernden Pflege bedürfen (unorganischer und organischer Leib).

Fritz Reheis
Wo Marx Recht hat
Primus Verlag GmbH
19,90 Euro

www.fritz-reheis.de

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 07. Februar 2012 um 00:05 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Literatur / Film, Politik / Gesellschaft abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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8 Comments »

  1. Vielen Dank für diesen schönen und klaren Beitrag. Nur in einem Punkt muss ich widersprechen: gut, dass Marx recht hat, denn das bedeutet auch, wir haben die Chance anders zu leben – aber diesen Kommentar wollte der Titel vermutlich genau provozieren, oder?

    Comment: Kathrin – 11. Februar 2012 @ 10:40

  2. Langsam komme ich ganz durcheinander, Kathrin: Was sagt Marx? Was sagt Reheis über Marx? Was sage ich über Reheis und Marx? Weil der Mensch nicht von Natur aus andere bedroht, haben wir die Chance, anders zu leben: In diesem Punkt ist es sicher gut, dass Marx Recht hat. Bei der Marxschen Erkenntnis, dass erst durch die volle und globale Entfaltung des Kapitalismus sein Grundwiderspruch unerträglich und damit neue Produktionsverhältnisse möglich und notwendig werden, bin ich mir schon nicht mehr so sicher, dass es gut ist, dass Marx Recht hat. Denn wenn wir erst durch die globale Unerträglichkeit müssen, kommt noch einiges auf uns zu. Dass wenige Menschen reich dadurch werden, dass sie die Arbeit vieler anderer Menschen ausbeuten können und diese keine eigenen Mittel haben, um für sich selbst zu sorgen, wäre besser nicht wahr.
    Viele Grüße urb

    Comment: urb – 13. Februar 2012 @ 14:26

  3. Vor allem wollte ich eine Diskussion zu diesem interessanten Beitrag anregen. Ich meinte: wenn schon wahr bzw. real ist, was in der Tat besser nicht wahr wäre, dann ist es hilfreich, dass es eine Theorie gibt, die die Kritik des bestehenden Systems ermöglicht, und seine immanenten Sachzwänge nicht als naturgegeben schildert, einen Blick jenseits des Gegebenen erlaubt.
    Die Frage nach dem Punkt, an dem ein Ende des Kapitalismus möglich wird, ist schwierig, denn sie hängt mit der Überwindung bestehender Machtverhältnisse zusammen, eine Prognose diesbezüglich würde ich nicht wagen. Insofern stimme ich deiner Anmerkung zu. – Allerdings könnte man auch sagen, dass eine globale Unerträglichkeit längst erreicht ist …

    Comment: Kathrin – 13. Februar 2012 @ 21:29

  4. Gut, dass es eine Theorie gibt, die eine den Kapitalismus überschreitende Dimension hat. Die muss freilich auch stets weiterentwickelt und an Gegegebenheiten angepasst werden. Aber die gesellschaftliche Dynamik, die nötig ist, dass sich tatsächlich etwas ändert, ist allerdings unberechenbar. Nach Marxscher Auffassung ist es doch wohl so, dass dieser Schritt nicht schmerzlos und kontrolliert vollzogen werden kann. Was aber wünschenswert wäre. Zudem glaube ich, dass die Unerträglichkeit die nur langsam abbröckelnden Mittelschichten der Industrienationen noch nicht erreicht hat. So lange man sich hier noch arrangieren kann, wird sich nicht viel bewegen. Allerdings scheinen die europäischen Staaten einer nach dem anderen aus der Erträglichkeit zu kippen – Griechenland ist nur der Anfang …

    Comment: urb – 14. Februar 2012 @ 11:40

  5. Wenn eine ‚Unerträglichkeit‘ aber auch im Geist entstehen kann als ein waches Gefühl dafür, wie es anderen ergeht, verbunden mit einem Wissen um die Gründe dafür, dann müsste man nicht auf das ökonomische Kippen warten, sondern auch Aufklärung wäre ein Weg, Veränderungswille zu erzeugen, und dabei, meine ich, kann Marx noch hilfreich sein.

    Comment: Kathrin – 14. Februar 2012 @ 22:10

  6. Interessant. Mich würde interessieren wie das Buch aufgebaut ist bevor ich es mir zulege. Frei nach Marx oder ein aspekteweises nach vorne tasten?

    Comment: Sheep Wolf – 15. Februar 2012 @ 19:54

  7. Ich würde sagen, das Wort „aspekteweise“ trifft es ganz gut, Herantasten ist bei einem profunden Marxkenner wie Reheis zu wenig. Eine wirklich lohnenswerte Lektüre!

    Comment: urb – 15. Februar 2012 @ 22:56

  8. Kathrin, ich bin überzeugt davon, dass es viele gibt, die sich einfühlen können in die, denen es schlechter geht, und damit die Unerträglichkeit vorausahnen. Auch haben Aufklärung und das Scheitern unserer Wirtschafts- und Finanzsysteme bereits bei vielen einen Änderungswillen wachgerufen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob dies genügt, diesem ganzen neoliberalen Schwachsinn ein Ende zu bereiten. Man kann vieles im Geiste antizipieren, aber ob die gesellschaftlichen Umbrüche dann genauso verlaufen werden? Jedenfalls leistet ein Buch, wie das von Fritz Reheis, eine enorm wichtige Vermittlungsarbeit hinzu einem überschreitenden Denkansatz, und hilft dabei die Welt aus der Sicht des Menschen, – nicht aus der seines unter der Kapitallogik verdinglichtem Pendants – wiederzuentdecken.

    Comment: urb – 16. Februar 2012 @ 00:21

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